Die Stadt der Suchenden

02/20/2014

Berlin ist ein Tummelplatz des Glaubens. Die Pfarrer Christof Theilemann und Andreas Goetze vom Berliner Missionswerk sprechen über Ökumene, Patchwork-Religiosität und ein Leben ohne Religion.

Von Jennifer Hinz

Christof Theilemann, Sie sind landeskirchlicher Pfarrer für Ökumene und Weltmission. Die Zahl der Kirchenaustritte in Berlin innerhalb eines Jahres ist markant. Über 7.500 Menschen sind ausgetreten und nur 870 Menschen ein. Haben die Berliner ihren religiösen Glauben verloren?
Christof Theilemann: Diese Stadt ist religiöser geprägt, als sie sich das manchmal eingesteht. Wir haben ja eine große Debatte zum Thema Migration und Islam. Die Statistiken zeigen aber, dass die Mehrzahl der Menschen, die kommen, einen christlichen Hintergrund hat.

Glaube ist Heimat, sagt man. Stimmt das in diesem Fall?
Christof Theilemann: Viele der Migranten mit christlichem Hintergrund leben ihren Glauben hier stärker aus als so mancher deutsche Christ. Ich habe fast jede Woche drei bis vier Anfragen von verschiedensten Menschen aus Brasilien über Vietnam bis nach Ghana, die Räume für ihre Gemeinde anmieten wollen. Wir haben 180 fremdsprachige Gemeinden in Berlin. Ich glaube die Vielfalt an Glaubensgemeinschaften und Sprachen wird in Berlin stark unterschätzt.

Also spielt nicht nur das Christentum eine Rolle?

Christof Theilemann (links) im Gespräch. Foto: Privat

Christof Theilemann (links) im Gespräch. Foto: Privat

Christof Theilemann: Berlin ist eine stark säkularisierte Stadt. Aber die Evangelische Kirche ist die größte Glaubensgemeinschaft in dieser Stadt und dann folgen die Katholische Kirche und verschiedene muslimische Gruppen. Allerdings gibt es von Kiez zu Kiez und zwischen den Glaubensgemeinschaften Unterschiede.

Andreas Goetze, Sie sind landeskirchlicher Pfarrer für interreligiösen Dialog. Deuten die hohen Austrittszahlen darauf hin, dass sich viele Berliner von der christlichen Kirche abwenden.
Andreas Goetze: Berlin ist eine Stadt der Suchenden. Eine Stadt mit Menschen, die auf dem Weg sind und nicht unbedingt wissen, wo ihr Weg hingeht. Sie probieren daher auch alles Mögliche aus, von Tarot über Horoskope bis zu irgendwelchen esoterischen Gruppierungen. Wenn man den Glauben verliert, taucht oft Aberglaube auf. Andere glauben nur noch, was sie mit eigenen Augen sehen. Wenn Fragen über Schuld, Leid oder den Tod aufkommen, hilft diese Diesseitigkeit aber nicht weiter.

Warum wird der unterstützende und leitende Charakter der Kirche dann nicht als solcher erkannt?
Andreas Goetze: Das Individuum meint, es müsse sich sozusagen verselbständigen und kritisch sein gegenüber den Institutionen, Parteien, Gewerkschaften und eben auch gegenüber der Kirche. Das ist gerade modern. Damit schafft man jedoch nicht nur Individualität, sondern auch eine große Verunsicherung. Ich kann Entscheidungen jeden Tag anders treffen, habe im Gegenzug aber keine Orientierung mehr. Und die Suche nach Orientierung erlebe ich in dieser Stadt als eine riesengroße Frage.

Viele suchen diese Orientierung in alternativen Glaubensformen, etwa Engelsglaube oder mit einer Lebensweise, die mit der Natur im Einklang steht.
Andreas Goetze: Es gibt eine ganze Reihe von Glaubensweisen, die aber nicht selbstkritisch genug sind. Diese Glaubensweisen stellen nicht in Frage. Ich kann narzisstisch bleiben. Ich bin nicht herausgefordert, meinen Weg in Frage zu stellen, eventuell umzukehren und den Umgang mit mir selbst und anderen zu hinterfragen. In der christlichen Religion muss ich mich Jesus Christus stellen. Das ist eine Herausforderung, die manchmal anstrengend ist.

Andreas Goetze (links) auf einer Veranstaltung. Foto: Privat

Andreas Goetze (links) auf einer Veranstaltung. Foto: Privat

In wie weit beeinflusst Migration den Glauben der Berliner?
Andreas Goetze: Ich erlebe, dass besonders junge Leute beispielsweise gerne mal eine Moschee oder etwas vom Judentum kennenlernen wollen. Dann gibt es auch Gruppen aus Christen, Juden und Bahai, die miteinander unterwegs sind und sich wechselseitig befragen. Der eigene Glaube wird dadurch noch mal klarer und der Respekt vor dem anderen Glauben wächst. In den Schulen sind immer mehr muslimische Kinder im evangelischen Religionsunterricht. Wie gut das funktioniert, hängt von der Lehrkraft ab.

Welche Chancen birgt die Religionsvielfalt in Berlin?
Christof Theilemann: Ich kann in die griechisch-orthodoxe Kirche gehen oder mir die Ahmadiyya Muslim-Gemeinschaft in Pankow anschauen. Man hat die Möglichkeiten. Die Leute freuen sich oft sehr, wenn jemand mal zu ihnen kommt und sie wahrgenommen werden. Einmal haben die muslimischen Stadtteilmütter für Christen eine Führung durch Neukölln gemacht, zu den Stolpersteinen. Sie haben sich mit den jüdischen Deportierten unterhalten. Das war sehr bewegend. Aber das ist nur ein kleiner Teil, der noch sehr entwicklungswürdig ist.

Berlin gilt als kultureller Schmelztiegel. Müsste der interreligiöse Dialog hier nicht ein Selbstläufer sein?
Andreas Goetze: In Berlin kann ich sehr gut in meinem Kiez, meiner Straße, ganz für mich allein leben. Ich brauche den anderen eigentlich gar nicht. Die Milieus sind in anderen Städten kleiner, und es kommt daher viel häufiger zur Begegnung. Hier in Berlin scheinen mir die Parallelgesellschaften viel stärker zu sein, weil jeder genug Platz hat. Die Begegnungen sind viel seltener, aber auch umso nötiger.

Wo treffen in Berlin die Religionen aufeinander und harmonieren?
Andreas Goetze: Gerade im Bereich der Schulen gibt es viele solcher Begegnungen. Da tun sich zum Beispiel Religionslehrerinnen zusammen, um im christlichen sowie im islamischen Religionsunterricht Projekte gemeinsam umzusetzen.

Christof Theilemann: Wir spielen zum Beispiel mit den muslimischen Imamen Fußball. Manchmal spielen wir gemeinsam gegen andere Mannschaften. Aber auch wenn dabei Imame gegen Pfarrer spielen, klappt das trotzdem, weil wir alle nach den gleichen Regeln spielen.