Eine Zwangsheirat
Vor fast einem Jahr haben sich drei Gemeinden in Kreuzberg zu einer Gemeinde zusammengeschlossen. Sonst hätte eine von ihnen nicht überleben können – aber das neue Band der Einheit muss erst noch geknüpft werden.
Von Sophia Münder
Langsam fließt der Landwehrkanal unter der Admiralsbrücke in Kreuzberg hindurch. Seine Wasseroberfläche glitzert im Sonnenlicht. Spaziergänger flanieren mit Cappuccino-Bechern in der Hand am Ufer entlang. Was aber kaum jemand weiß: Der Kanal ist eine Trennlinie zwischen Nord und Süd. Zwischen arm und reich. Er teilt drei Pfarrbezirke, die eigentlich einer sein sollten. Denn seit dem 1. Mai 2013 sind die St. Simeongemeinde und die St. Jacobi-Luisenstadtgemeinde im Norden und die Evangelische Melanchthongemeinde im Süden eine Gemeinde. Auf dem Papier heißt sie jetzt die Evangelische Kirchengemeinde in Kreuzberg-Mitte. Aber in Wirklichkeit wird die neue Einheit nicht gelebt, denn die Bindung an die alte Gemeinde ist groß.
Die drei Kirchen sind wenige Minuten voneinander entfernt
Die Leute wuchsen an ihrem Kirchenturm auf. Wurden hier getauft, konfirmiert und getraut. Nach dem Zusammenschluss ist nichts anders, und doch alles. Die Fusion brachte der Gemeinde einen neuen Namen und neue Gottesdienstzeiten. Fast ein Jahr ist das jetzt her – Zeit die drei Gemeinden zu besuchen.
Nördlich des Kanals, in der Wassertorstraße ragt der Kirchturm der St. Simeon-Kirche in den Himmel. Eingerahmt von 50er Jahre Wohnblöcken mit gelblichen Fassaden.
Sie ist die Kirche des Widerstands.
In den letzten vierzehn Jahren schrumpfte die Zahl der Gemeindemitglieder von St. Simeon um fast die Hälfte. Von knapp 3000 auf nur noch 1700 Mitglieder – damit hatten sie keinen Anspruch auf einen eigenen Pfarrer oder Pfarrerin. Über die Hälfte der Bewohner im Wassertorquartier beziehen Arbeitslosengeld II. Zwei Drittel von ihnen haben einen Migrationshintergrund. Die meisten sind türkischer Herkunft. Bei der letzten Bundestagswahl kam die SPD hier auf über ein Drittel der Stimmen. Auf der Seite des Quartiersmanagement heißt es: Ein Kiez – 60 Nationen.
Alle drei Gemeinderäte stimmten der Fusion zu
Wolfang Müller sitzt seit 2010 hier im Gemeinderat. Der erste Versuch zu fusionieren, wurde hier abgebrochen. Zu groß war die Angst, dass die Fusion zu Lasten des eigenen Standorts geht. Auch der zweite Versuch war schwierig. Der Kirchenkreis schlug vor, der St. Simeongemeinde die Mittel für den Gebäudeerhalt zu streichen. „Das haben wir als einen massiven Angriff auf unsere Gemeinde verstanden. Wir hatten Angst, dass die Fusion dazu genutzt wird, St. Simeon platt zu machen.“ Befürworter gab es nur wenige, sagt Müller. Schließlich konnte man sich aber darauf einigen, dass alle Standorte erhalten und kein Personal im Rahmen der Fusion abgebaut wird.
Was seit dem 1. Mai als eine Einheit auf dem Papier steht, war eigentlich eine Zwangsheirat. Denn eine andere Möglichkeit gab es kaum. Ohne den Zusammenschluss wäre ein Gemeindeleben in St. Simeon nur schwer möglich gewesen. Die kleine Gemeinde hatte ihren Anspruch auf einen eigenen Pfarrer oder eine Pfarrerin verloren. Weil die Pastoren ohnehin oft wechselten hatte sie niemanden, der sich direkt für sie zuständig fühlte. Doch die Gemeinde hielt an ihrer Kirche fest. Superintendent Höcker begleitete die Kirchen durch den Prozess. „Wir haben sehr empfohlen, zu fusionieren“, sagt er. Also stimmten alle Gemeinderäte der drei Kirchen der Fusion zu.
„Der Kanal ist wie eine Grenze, die nicht überschritten wird“
Der neue Bund brachte auch neue Gottesdienstzeiten. Während jeden Sonntag in der Melanchthonkirche der Gottesdienst weiterhin um 11 Uhr stattfindet, einigte man sich darauf, dass sich die St. Jacobi- und die Simeonkirche wöchentlich abwechseln. Seitdem gehen viele nur noch alle zwei Wochen in den Gottesdienst, denn die Bereitschaft, die andere Kirche zu besuchen, ist bei vielen Gemeindemitgliedern noch sehr bescheiden. Aber eher würden die Menschen aus den nördlichen Gemeinden über den Kanal gehen, als dass jemand aus dem Süden hierher kommt, sagt Müller. „Der Kanal ist wie eine Grenze, die nicht überschritten wird.“
Nur 500 Meter von hier, durch einen kleinen Park hindurch, liegt die Jacobi-Luisenstadt Kirche. Mit ihrem prächtigen Kreuzgang und dem großen Kirchenschiff ist sie das architektonische Juwel der Gemeinde. Aber auch hier kämpft man gegen den Mitgliederschwund. Waren es vor vierzehn Jahren noch fast 2700 Mitglieder, sind es jetzt noch rund 1600.
St. Jacobi ist die Kirche des Aufbruchs. Das liegt an ihrem Pfarrer. Sieben Jahre lang hat Pfarrer Volker Steinhoff hier gepredigt, seit einem Jahr leitet er auch den Gottesdienst in St. Simeon, der Nachbarkirche. Er hat kurzes, graues Haar. Er spricht leise und überlegt. Von Anfang an sei er für die Fusion gewesen, sagt er. Denn der Rückgang an Christen ist eindeutig. Sterben Christen, ziehen Muslime in ihre Wohnungen ein. Deutsche Familien verlassen mit ihren Kindern den Kiez, weil sie nicht wollen, dass ihr Kind das einzig Deutsche in der Klasse ist. Die Fusion sei deshalb so schwierig, weil zwei völlig unterschiedliche Bevölkerungsstrukturen verbunden werden. Steinhoff kennt die Realität. Er verdängt sie nicht, er sieht ihr ins Gesicht. Als Pfarrer ist er auch ein Hirte, sagt er. Er muss schauen, was das Beste für die Gemeinde ist.
Es gibt nicht nur eine Kirchturmverbundenheit, auch eine Pfarrerverbundenheit
Als Steinhoff merkte, dass es im Norden viel Widerstand gegen die Fusion gab ist er eben allein zu den Gesprächen gegangen. In seiner lutherischen Gewissenfreiheit, wie er sagt: „Hier stehe ich, und ich kann nicht anders.“ Denn eine Fusion bringt auch die Chance neue Leute kennenzulernen und neue Angebote wahrzunehmen, sagt Steinhoff. Solange er noch predigt, ziehen ihm die Leute hinterher. Von Jacobi nach St. Simeon. Denn es gibt nicht nur eine Kirchturmverbundenheit, auch eine Pfarrerverbundenheit.
Vor allem junge Leute treten aus finanziellen Gründen aus der Kirche aus. Verrückt sei es dann, wenn sie sich von ihm trauen lassen wollen, sagt Steinhoff. Aber er resigniert nicht. Er tut es. „Weil ich den Menschen zuerst im Blick habe.“ Auch wenn er deswegen mit seinen Küsterinnen im Klinsch liegt, wie er sagt. Auch wenn er gebeten wird, Menschen zu beerdigen, die nicht in der Kirche waren, sagt er Ja. „Das ist für mich eine Möglichkeit, ihnen Trost zu geben und sie damit zu überraschen, dass das Evangelium vielleicht doch Hilfe sein könnte.“ Steinhoff wünscht sich mehr Entdeckergeist für seine Gemeinde. „Eine Gesellschaft die sich nicht bewegt, bleibt liegen und eine Gemeinde auch.“
Mit der Fusion kamen nicht nur drei Kirchen zusammen, auch drei Pfarrer. Deswegen beschloss man, unterschiedliche Schwerpunkte in den Gemeinden zu setzen: Melanchthon soll als Familienzentrum genutzt werden, Jacobi stärker zur Kulturkirche gemacht und in Simeon soll ein stärkerer diakonischer Schwerpunkt gesetzt werden.
Steinhoff freut sich über die Vermischung. Aber wie im politischen Bereich gebe es auch in der Kirche Alphatiere. Die könnte man nun auf Teufel komm raus zusammenbinden, „aber gewinnen oder verlieren wir da?“ fragt er. „Wenn wir gewinnen wollen, sollte jeder in seinem Bereich arbeiten, aber alle sollten am Band der Einheit knüpfen.“ Steinhoff knüpft nicht mehr lange mit. Ab Mai geht er in den Ruhestand.
Von der St. Jacobikirche zur Melanchthon-Gemeinde sind es zwanzig Minuten Fußweg die Prinzenstraße entlang. Graue Wohnblöcke reihen sich aneinander. Vorbei an „Non-Stop“- Shops und Dönerbuden. Vorbei am Sommerbad Kreuzberg, dem Prinzenbad. Über den Kanal. In einen anderen Kiez, in eine andere Welt. In eine privilegierte Welt.
Melanchthon ist eine Kirche, in denen es den Menschen gut geht
Hier, südlich des Kanals, liegt die Melanchthon-Kirche. Direkt am Planufer. Melanchthon ist eine Kirche, in denen es den Menschen gut geht. Umgeben von restaurierten Altbauten mit Blick aufs Wasser. Bei der letzten Bundestagswahl haben die Grünen hier 31 Prozent der Stimmen geholt, fast ein Drittel. Junge, wohlhabende Familien bringen hier ihre Kinder in die Kita. Eine lebendige Gemeinde mit einer starken Kinder- und Jugendarbeit und über 3000 Gemeinde-Mitgliedern. Damit haben sie Anspruch auf einen eigenen Pfarrer oder eine Pfarrerin.
Bald werden nur noch zwei Pfarrer an der Einheit zwischen Nord und Süd zu knüpfen
Hier arbeitet Pfarrer Schmidt. Auch er sei von Anfang an für die Fusion gewesen, sagt er. Er ist ein resoluter Typ, der darauf verweist, dass das Wort „Pfarrer“ vom Wort „Pfarr-Herren“ abgeleitet ist, dem Herren in einer Pfarrei. Schmidt ist ein Pfarrer, kein Pastor. Natürlich hätten auch nur die St. Simeon- und die Jacobigemeinde fusionieren können, aber das wäre – auch wenn Schmidt sich von diesem Bild distanziert – wie eine Hochzeit zweier armer Bräute gewesen. Was fehlte, war ein reicher Bräutigam: die Melanchthon Gemeinde mit ihren über 3000 Mitgliedern. So viele Mitglieder haben die anderen beiden Gemeinden zusammen. „Eine Fusion ist emotional natürlich hoch belastend“, sagt Schmidt. Aber es sei eine Frage des Wollens, der Mobilität in den Köpfen. „Wir sind mobil in dieser Stadt, aber wenn es darum geht, wo Gottesdienst gefeiert wird, muss es in der eigenen Kirche sein.“ Einige seiner Mitglieder würden auch zum Mittagessen in den Luisenkeller der Jacobi-Kirche gehen. Aber eben nur Wenige.
Bald werden nur noch zwei Pfarrer an der Einheit zwischen Nord und Süd zu knüpfen: Pfarrer Schmidt und Pfarrerin Birgit Jung. Sie ist seit 2011 in der Gemeinde und wird ab Mai die beiden nördlichen Kirchen übernehmen. Jung setzt auf Offenheit und Kreativität. Sie predigt nicht von der Kanzel, sondern steht vor den ersten Reihen. Ihre langen blonden Haare hat sie im Nacken zu zwei kleinen Zöpfen zusammengebunden. Sie will die Menschen mit Offenheit erreichen. Sie veranstaltet Motorradausflüge, verschickt Whats App- und Facebook-Nachrichten. Zum Valentinstag veranstaltet sie einen Gottesdienst für Verliebte.
Sie verteilt Liebesbriefe, die sie im Namen Gottes verfasst hat, und sie duzt die Anwesenden. Fragt, wer seit dem Valentinstag schon Blumen bekommen oder schon geküsst hat. Die rund 30 Gemeindemitglieder, die an diesem Sonntag kommen, empfängt sie in Kleid und Bluse. Herzlich aber bestimmt fordert sie die Leute auf so weit vorne wie möglich Platz zu nehmen. Erst dann zieht sie sich den Talar über. Drei Saxofonistinnen spielen „Eternal Flame“, Liebespaare können sich segnen lassen. In einer Reihe ist ein Raunen zu hören, aber sonst scheint der Gottesdienst gut anzukommen. Er endet mit Fürbitten.
Jung sagt, als Pastorin müsse sie sich an die Gegebenheiten anpassen, die Schwerpunkte verändern sich. Früher habe sie viel Jugend- und Kinderarbeit gemacht, jetzt würde sie eben versuchen, die kulturelle Arbeit in der Gemeinde zu stärken. Für die Fusion wünscht sie sich, dass daraus keine Zweckehe wird, sondern die Liebe zueinander wachsen und reifen möge. Zwischen den Menschen und den Standorten und den Mitarbeitern und den Ältesten. Der Kanal soll keine Grenze mehr sein.