Zwischen lauter Atheisten
Hartmut Wittig ist Pfarrer in Hellersdorf. Dort gibt es so wenige Christen, wie sonst kaum in Berlin. Ein Ortstermin im Osten Berlins.
Von Bettina Malter
Wenn Pfarrer Hartmut Wittig jemanden für Gott gewinnen will, nutzt er seine Berliner Schnauze. Die Jünger, die Jesus folgen, nennt er eine Truppe von Neugierigen. „Sie müssen sich vorstellen: Diese Truppe kommt in ein Dorf, rastet und frisst alles leer“, sagt Wittig mit dem Elan eines Geschichtenerzählers, der versucht, die anderen in seine Welt zu ziehen. Doch die Gesichter der Frauen, die ihm gegenüber sitzen, bleiben reglos.
„Auf dem Weg in die Gemeinschaft“, heißt der Kurs, den Wittig alle zwei Wochen anbietet, immer Donnerstagabend, immer eine Stunde. Eigentlich ist der Kurs für Menschen, die der evangelischen Gemeinde beitreten wollen, um mehr über den Glauben zu erfahren. In Hellersdorf hat er noch eine andere Funktion. Hier sitzen fünf Erzieherinnen, alle Atheistinnen. Sie arbeiten für den evangelischen Kindergarten, nur zwei Querstraßen von der Kirche entfernt. Derzeit ist es schwer, pädagogische Fachkräfte zu finden und evangelische erst recht. Also hat die Gemeinde eine Ausnahme gemacht und Erzieherinnen eingestellt, die keine Kirchenmitglieder sind. Damit die Frauen dennoch evangelische Werte vermitteln können, sollen sie in den Kurs von Pfarrer Wittig. Er hegt die Hoffnung, dass die Frauen so zum Glauben finden.
Wittig hört zu, wenn die Erzieherinnen, eine nach der anderen, Bibelverse vorlesen; wie Schulkinder, abgehackt, ohne die Bedeutung zu verstehen. „Zu einem anderen sagte Jesus: Komm, folge mir nach. Dieser jedoch antwortete: Herr, lass mich zuerst noch nach Hause gehen und meinen Vater begraben“, liest eine 25-jährige Erzieherin; das lila-blaue Haar zu einem Zopf gebunden, Piercings, lange Kunstnägel. Ihre Sitznachbarin mit rotem Haar liest weiter: „Jesus sagte zu ihm: Lass die Toten ihre Toten begraben; du aber geh und verkünde das Reich Gottes!“
„Was bedeutet das?“, fragt Pfarrer Wittig. Alle Frauen kleben mit den Blicken am Text, niemand schaut auf. Einzig das Ticken der Uhr ist zu hören.
Wittig ist 62 Jahre alt, hat eine Halbglatze und einen gekräuselten Vollbart. Gern hätte er mehr Menschen in seinem Kurs. Aber die evangelische Kirche sei eben ein Angebot von vielen, nicht Volkskirche, wie sie selbst propagiere. Besonders im Osten der Republik ist das so, wo laut einer Langzeitstudie 52 Prozent Atheisten sind – so viele wie sonst kaum auf der Welt. In Hellersdorf waren 2012 sieben Prozent evangelisch, drei Prozent katholisch. So niedrige Werte gibt es in Berlin nur noch in Hohenschönhausen. Viele Hellersdorfer wissen nicht einmal, wo die evangelische Kirche steht.
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Wittigs Kirche steht an der Ostgrenze des Bezirks, dort wo Hellersdorf kleiner wird, wo nur noch Plattenbauten mit fünf und sechs Etagen stehen, gleich neben einem riesigen Naturschutzgebiet; nur wenige Meter entfernt von Kaulsdorf, einer Gegend aus Ein- und Zweifamilienhäusern. Zu Wittigs Gemeinde gehören 3500 Protestanten, etwa 500 kommen mindestens einmal im Jahr in die Kirche. Zu den anderen Mitgliedern hat der Pfarrer keinen Kontakt.
„Aber warum?“, fragt die Blonde.
„Weil das Leben mehr ist als unsere biologische Existenz. Es geht um die Beziehung zu Gott.“
Schweigen.
„Ich wollte früher einmal Mathelehrer werden. Oder Pilot“, beginnt Wittig, der in Mahlsdorf aufgewachsen ist. Während des Abiturs habe er gemerkt, Gott wolle etwas von ihm. Wittig dachte sich: Wenn Gott für ihn vorsehe, Pfarrer zu werden, solle er ihn nicht zum Mathestudium zulassen. Als es aber darum ging, auf der Studienkarte sein Wunschfach anzukreuzen, war Wittig klar: Das könne er mit Gott nicht machen. Er müsse selbst die Entscheidung treffen. In eine leere Zeile schrieb er Theologie. Zum Kreuzen war das Fach in der DDR nicht vorgegeben.
„Mit dem Glauben ist es wie mit einem Drei-Meter-Brett. Springen muss man selbst“, sagt Wittig. Und runter klettern wolle man ja auch nicht.
„Ich würde wieder runter klettern. Ist mir egal“, entgegnet die Blonde.
Wittig ist 1985 aus Friedrichshain nach Hellersdorf gewechselt – ein Jahr nachdem die DDR mit dem Bau der Plattensiedlung begann. Als Pfarrer sollte er dort eine Gemeinde aufbauen. Zwei Christen hatten sich gleich zu Beginn „geoutet“, wie Wittig es nennt. Damals gab es keine staatliche Kartei, auf die er zugreifen konnte. Nur wer sich bei der Gemeinde meldete, von dem wusste Wittig.
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Noch heute kann er den Spruch aufsagen, mit dem er anfangs von Haustür zu Haustür zog: „Mein Name ist Wittig. Ich bin Pfarrer aus der evangelischen Kirche und auf der Suche nach allen Menschen, die sich dafür interessieren.“ Er klingelte nie hintereinander bei Wohnungen, die nebeneinander lagen. Immer eine auslassen, dann die nächste Etage, und auf dem Weg nach unten dann die Ausgelassenen. So verhinderte er, dass der Nachbar zögert und sich fragt: Hat der den jetzt reingelassen oder nicht. Nach zwei Jahren hatte Wittig eine Gemeinde mit 300 Christen. Ende der Neunziger hörte er dann auf, an Türen zu klingeln. Die Zeugen Jehovas und die Mormonen versuchten verstärkt auf diese Weise Anhänger zu gewinnen. „Mit denen wollten wir nicht in einer Reihe stehen.“
Seit einigen Monaten engagiert sich die evangelische Gemeinde für das Flüchtlingsheim in Hellersdorf. Dafür haben sie viel Zuspruch erhalten; auch von Atheisten. Einige Kirchenmitglieder hingegen sind deswegen aus der Kirche ausgetreten; andere wiederum haben die Kirche verlassen, weil sie sie für rechts gehalten haben. Für Wittig macht das deutlich: Viele, die eine DDR-Sozialisation haben, wissen nicht, wo sie die Kirche hinstecken sollen.
„Lasst uns zum Schluss beten“, sagt Wittig. Er legt die Hände ineinander, schließt die Augen, und spricht das Gebet. Die Frauen tun es ihm gleich, blicken mit offenen Augen auf den Tisch. Bis auf eine. Sie lässt die Hände unten und wartet ab, bis es vorbei ist.
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